Frauen bauen anders, Männer auch
Architektin Marisa Feuerstein
Die traditionellen Ortsbilder mit ihren Brunnen und Sgraffito-verzierten Häusern im Unterengadin sind einzigartig. Kein Wunder, kommt Maria Feuerstein ins Schwärmen, wenn sie erklärt, wie durchdacht und praktisch die typischen Häuser hier gebaut wurden. So ist es dann auch Ehrensache, dass die Architektin und Mutter einer Tochter nicht einfach irgendwie baut, sondern ihre architektonische Verantwortung sowohl beim Bau als auch beim Umbau von Häusern und Gebäuden sehr ernst nimmt.
Kühe als Fussbodenheizung
Gerade weil die Vegetationszeiten auf dieser Höhe kürzer sind und die Ernte damit geringer ausfällt, war und ist Agrarland im Unterengadin ein kostbares Gut. Das führte dazu, dass keine Streusiedlungen, sondern sehr kompakte Dörfer entstanden sind, um möglichst wenig Land zu verschwenden. Wie Marisa erklärt, ist jedes Engadinerhaus nach dem gleichen, wohldurchdachten Schema aufgebaut: «Durch die grosse, runde Eingangstür gelangt man in den Suler, ein langer gepflasterter oder mit Holzdielen belegter Gang, durch den man mit Ross und Wagen das Heu in den im hinteren Bereich gelegenen Heustall bringen konnte. Vom Suler geht es in die Wohnräume: die Stüva (Stube) mit dem einzigen Ofen des Hauses, welcher von der angrenzenden Chadafö (Küche) eingefeuert wurde sowie die Spensa (Speisekammer). Über der Stüva liegt die Schlafkammer, welche direkt über dem Ofen mit einer steilen Leiter erschlossen ist. Unter den Wohnräumen und dem Suler wurde das Vieh gehalten.» Mit einem Augenzwinkern fügt sie hinzu, dass das Vieh damit quasi als Bodenheizung für die Wohnräume fungierte.
Wer sich nun fragt, wie man durch die heute noch vorhandenen knapp zwei Meter hohen Tore mit Ross und Wagen fahren konnte, für den hat Marisa eine plausible Antwort parat: «Im Gegensatz zu früher, sind die Strassen heute um bis zu ein Meter höher. Das erklärt, warum die Eingänge verhältnismässig niedrig scheinen.» Ein architektonisches Lieblingsdorf hat die Scuolerin übrigens nicht – aber Ardez und Tschlin findet sie gehören sicher zu den Juwelen.
Im Gegensatz zu früher, sind die Strassen heute um bis zu ein Meter höher. Das erklärt, warum die Eingänge verhältnismässig niedrig scheinen.
Die Wichtigkeit des Fensterplatzes
«Charakteristisch für Engadinerhäuser ist auch, dass sie über kaum angrenzende Grünflächen verfügen», führt Marisa aus. Einziger Aufenthaltsort ausserhalb des Hauses, das übrigens immer zum Dorfplatz oder auf die Strasse hin ausgerichtet ist, ist eine Bank neben dem Eingang: «Hier sass man, beobachtete das Treiben im Dorf und hielt eine ‘Baderlada’ mit den Nachbarn, wie ein Schwätzchen auf Romanisch heisst. Sitzbänke statt Facebook also.» Doch nicht nur Nachbarschaftspflege, sondern auch soziale Kontrolle, war wichtig: «Die Stüva war stets so ausgerichtet, dass man durch das Fenster in der warmen Stube beobachten konnte, was im Dorf läuft.»
Die Stüva war stets so ausgerichtet, dass man durch das Fenster in der warmen Stube beobachten konnte, was im Dorf läuft.
Ein Spagat zwischen Tradition und Moderne
Ganz gleich, ob Umbau eines traditionellen Engadinerhauses oder Neubau – für Marisa ist elementar, dass sich die Gebäude ins Orts- und Landschaftsbild einfügen. Das heisst nicht, dass man keine modernen Gebäude bauen soll. Denn: «Wir leben in keiner landwirtschaftlichen Gesellschaft mehr und die Bedürfnisse der Menschen haben sich verändert. Ein gewisser moderner Komfort muss sein.» Aber es bedeutet, dass man sich auch bei Neubauten an den Volumetrien und Proportionen der lokalen Baukultur orientiert. Besonders wichtig ist der Scuolerin zudem, sich mit der Bedeutung der Symbole auf den Häusern auseinanderzusetzen. Denn es handelt sich dabei nicht einfach um Dekoration: «Damit es keine Sinnentleerung gibt, braucht es Respekt und Wissen um die Bedeutung der Sgraffitos an den Fassaden».
Damit es keine Sinnentleerung gibt, braucht es Respekt und Wissen um die Bedeutung der Sgraffitos an den Fassaden.
Symbiose aus äusseren Einflüssen und innerer Funktionalität
Ein Gebäude ist gemäss Marisa dann architektonisch gelungen, wenn es eine Symbiose ist aus äusseren Einflüssen und innerer Funktionalität – wie es das Engadinerhaus bereits seit Jahrhunderten vormacht. Die Architektin verzichtet darauf, auf jeden Modetrend aufzuspringen: «Das interessiert mich nicht. Meine Bauwerke sollen zeitlos schön sein und auch nach 20 Jahren noch die Gemüter erfreuen.» Damit das gelingt, muss die Chemie mit der Kundschaft stimmen. Wenn sie sich nach den ersten Gesprächen «gefunden» haben, geht die Arbeit richtig los: Marisa macht Vorschläge, visualisiert, berechnet Kosten, bereitet Baueingaben vor und begleitet die Projekte bis zur Vollendung. Dabei ist ihr ganzheitliches Denken wichtig: Inneneinrichtung und Beleuchtung gehören ebenso dazu wie technische Details. Projektabschlüsse sind für die Unternehmerin stets emotional: «Wenn ich über Monate viel Herzblut in ein Projekt gesteckt habe, dann stimmt es mich auch etwas traurig, dieses loslassen zu müssen. An solchen Tagen vereinbare ich bewusst keine weiteren Termine.»
Meine Bauwerke sollen zeitlos schön sein und auch nach 20 Jahren noch die Gemüter erfreuen.
Kein systematischer Männerausschluss
Unterstützt wird die Architektin von fast ausschliesslich Frauen. Eine ungewöhnliche Tatsache in der eher männerdominierten Baubranche. Marisa ist sich sicher: «Frauen bauen anders, Männer auch.» «Weibliche» Architektur zeigt sich für sie in für den Gebrauch durchdachten, praktischen Details. Aber auch durch weichere Materialisierung und Farben. «Es war kein bewusster Entscheid. Dass wir heute primär durch Frauenpower überzeugen, hat sich so ergeben.»
Es war kein bewusster Entscheid. Dass wir heute primär durch Frauenpower überzeugen, hat sich so ergeben.
Die Hörner auf der Baustelle abstossen
Dass Marisa mit 30 Jahren das Architekturbüro des Vaters übernommen hat, ist der geplatzten Immobilienblase und raren Jobangeboten nach dem Studium geschuldet. Statt in Boston und Toronto Karriere zu machen, kehrte sie – vermeintlich temporär – zurück ins Unterengadin. Der Vater schickte sie viel auf Baustellen, damit sie die praktische Seite kennenlernen konnte. Rückblickend ist sie dafür dankbar: «Ich verstehe das Handwerk und bin im Stande, Dinge zu hinterfragen und auf Augenhöhe zu diskutieren. Als Perfektionistin mache ich das bis zum Schluss.» Statt in der grossen weiten Welt hat Marisa ihr Glück im beschaulichen aber architektonisch nicht minder spannenden Unterengadin gefunden.
Ich verstehe das Handwerk und bin im Stande, Dinge zu hinterfragen und auf Augenhöhe zu diskutieren. Als Perfektionistin mache ich das bis zum Schluss.
Ohne Natel den Akku laden
Gemeinsam mit ihrem Bruder besitzt Marisa Feuerstein ein gemütliches «Hide-Away» in S-charl, einem Weiler rund 15 km südlich taleinwärts von Scuol. Hier, im selbst umgebauten Stall, tankt sie – ohne Natelempfang und Internet – Kraft für neue Herausforderungen. Zum Kochen bevorzugt sie dort den Holzofen und geniesst, wie viel Ruhe und Entschleunigung ihr diese Aufenthalte in S-charl bringen. Wobei – ganz so entschleunigt geht es dann doch wieder nicht zu und her: Zusammen mit ihrem Partner unternimmt die sportliche Frau liebend gerne Biketouren, zum Beispiel durch den God da Tamangur, den höchsten Arvenwald Europas. Vielleicht ist es auch genau diese Naturverbundenheit, die Marisa von einer Saison als Hüttenwartin träumen lässt.
Text: Martina Stadler
Bilder: Dominik Täuber
Objekte und Projekte von Marisa Feuerstein
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