Mit Sophia unterwegs.
Königstour zu den Macun-Seen
Der Herbst kommt, die Tage werden kürzer – umso wichtiger ist es, früh aufzubrechen. Mit 8 Stunden Wanderzeit gehört die Senda Lais da Macun wohl zu den anspruchsvollsten Tageswanderungen im Schweizerischen Nationalpark und dementsprechend plane ich genügend Zeit dafür ein. Das frühe Aufstehen lohnt sich aber: langsam geht die Herbstsonne über den umliegenden Bergen auf und taucht den Wald oberhalb von Zernez in warmes Morgenlicht. Je weiter ich den idyllischen Waldweg hochlaufe, desto seltener werden die Laubbäume und an deren Stelle treten Fichten und schliesslich die malerischen Lärchen im goldigen Herbstkleid und ein Stockwerk tiefer die knallroten Preiselbeeren und Bärentrauben. Nach ungefähr 2 Stunden sehe ich plötzlich gar keine Bäume mehr, die Waldgrenze ist erreicht: Zeit für eine erste Pause. Weiter geht es an Lawinenverbauungen vorbei durch die zu dieser Jahreszeit steppenartige Landschaft zum ersten Aussichtspunkt, dem Munt Baselgia. Die Sicht reicht bis weit ins Oberengadin hinauf und ins Unterengadin hinunter, die Sonne beginnt zu wärmen – ein magischer Herbsttag kündigt sich an. Einen jener Tage, von denen man weiss, dass in diesem Jahr nicht mehr viele dieser Art kommen werden. Umso mehr möchte ich genau diesen Tag geniessen.
Nach dem Munt Baselgia verändert sich der Untergrund schlagartig, über Fels und Geröll steigt man dem Grat entgegen. Wie aus dem Nichts erscheinen 2 Bartgeier in der Luft und kreisen, von der Thermik getragen, direkt über dem Wanderweg. Obwohl die Stelle nicht gerade einem Picknick-Platz gleicht, halte ich Inne, um die majestätischen Vögel zu bewundern. Mit einer Flügelspannweite von fast drei Metern ist der Bartgeier der unumstrittene König des Alpenhimmels. Früher als Lämmergeier verschrien, ist er heute ein gern gesehener Bewohner des Nationalparks. Nach einigen Kreisen verschwinden die Tiere hinter dem nächste Felskamm. Auch ich mache mich, wenn auch weit weniger elegant, auf den Weg zum höchsten Punkt der Wanderung, der schon bald erreicht ist. Von hier aus bietet sich eine fantastische Sicht auf die tiefblauen Macun-Seen und das eingezuckerte Silvrettagebiet auf der anderen Seite des Unterengadins.
Dieser Punkt markiert zeitgleich die Grenze zum Schweizerischen Nationalpark - ab hier gilt somit striktes Weggebot, Bikes und Hunde sowie Drohnen bleiben draussen. Weitere Schutzbestimmungen sind ebenfalls zu beachten, denn die Natur soll sich ungestört entfalten können.
Auch hier, auf knapp 3000 Meter ist der nahende Winter bereits zu spüren: Auf der Nordseite des Grates hat der letzte Niederschlag ebenfalls eine dünne weisse Decke aus Neuschnee hinterlassen. Ich geniesse noch eine Weile die Aussicht und begebe mich dann auf den schmalen Gratweg zur Fuorcletta da Barcli. Der Pfad hinunter zum Plateau ist schneebedeckt und daher sehr rutschig. Vorsichtig und langsam steige ich hinab, bis ich wieder festen Grund unter den Füssen spüre. Am Lai d’Immez ist es höchste Zeit für die Mittagsrast - da das Hochplateau zum Schweizerischen Nationalpark gehört, darf der ausgewiesene Pausenplatz nicht verlassen werden. Gestärkt stelle ich mich nun der Entscheidung, ob ich lieber auf direktem Weg übers Hochplateau wandern oder noch eine Schlaufe zum Lai da la Mezza Glüna und dem Lai dal Dragun machen soll. Weil heute einer dieser goldenen Herbsttage ist, die einen mit ihrer wärmenden Sonne und guter Sicht dazu auffordern, sie in vollen Zügen zu geniessen, entscheide ich mich schliesslich für die zweite Variante. Atemberaubend schön reflektiert die Landschaft in den spiegelglatten Seen, es herrscht absolute Stille: spätestens jetzt kommen sämtliche Gedanken zur Ruhe.
Nach dem ich alle Seen ausgiebig begutachtet habe, - Baden ist übrigens streng verboten - mache ich mich an den Abstieg in Richtung Lavin. Am Westhang sauge ich die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf, bevor ich ins schattige Val Zeznina und zur gleichnamigen Alp hinabsteige. Die offene Ebene weicht nun wieder dem immer dichteren Nadelwald, es wird kühler. Überraschend schnell hat man die 1600 Meter Abstieg hinter sich gebracht und das mediterran anmutende Lavin erscheint im Talgrund. Nach über 20 Kilometern und fast 8 Stunden Wanderzeit bin ich am Ziel dieser einzigartig schönen Tour und kann jeden Schritt davon empfehlen. Ich kann mit gutem Gewissen behaupten, dass ich diesen Herbsttag in vollen Zügen ausgekostet habe – nun kann der Winter kommen.
Tipp: Am Lai d’Immez hat es einen ausgewiesenen Pausenplatz, der sich gut für die Mittagsrast eignet.
Sophia Bartolomei
Wichtig zu wissen
- Anreise: Mit der RhB vom Unter- oder Oberengadin nach Zernez
- Dauer: ca. 8 Stunden Wanderzeit
- Distanz: 22 Kilometer
- Auf-/Abstieg: 1600m/1600m
- Schwierigkeit: T3
- Alternative: Der Weg ist in beide Richtungen begehbar, von Zernez nach Lavin aber aussichtstechnisch schöner
- Ausrüstung:
- feste Wanderschuhe, evt. Wanderstöcke
- warme und wetterfeste Kleidung
- Sonnenschutz
- genügend Trinkwasser und Verpflegung (es gibt auf dem Weg keine Einkehrmöglichkeit)
- Notfallapotheke
- Wichtiger Hinweis:
- Die Macun-Seenplatte ist Teil des Schweizerischen Nationalparks. Es herrscht somit ein absolutes Weggebot.
- Stellenweise gibt es keinen Mobilfunkempfang: Den Wegverlauf daher gut einprägen oder eine Offline-Karte bereithalten.