Wer Romanisch kann, kann mehr - «Chi chi sa rumantsch, sa daplü»
Christina Sedláček
Cumünanza: Der Schlüssel zum Ankommen
Auch wenn man im Unterengadin ohne weiteres mit Deutsch durchkommt, ist für die Sempacherin Christina Sedláček klar, dass man nur Teil einer Dorfgemeinschaft werden kann, wenn man auch deren Sprache spricht: «Ohne Romanischkenntnisse bleibt einem ein zentraler Teil der kulturellen Identität verborgen und man bekommt nur die Hälfte von dem was läuft mit. Es macht mir Freude, beim Einkaufen in den Dorfläden eine kleine ,baderlada’, einen Schwatz, abzuhalten. Ich merke dann, dass ich angekommen bin, in Sent, und im Romanischen. Und dass mich das Leben hier entschleunigt.» Mittlerweile ist das Vallader* der «Unterländerin» so gut, dass sie an der Academia Engiadina in Samedan nicht mehr nur deutschsprachige, sondern auch romanische Klassen unterrichtet. Und mit einem Augenzwinkern verrät sie: «Im Zweifelsfall frage ich meinen Mann Jan oder die Schüler nach dem richtigen Ausdruck.»
Ingaschamaint: Grotta da cultura
Ankommen heisst auch, sich dem Takt des Dorflebens anzupassen, sich dem Engadiner Lebensgefühl hinzugeben und sich einzubringen. Kurze Zeit, nachdem Familie Sedláček den Wohnort vom «Unterland» in Jans Heimat nach Sent verlegt hat, kommt die Anfrage, ob sich Christina in der «Grotta da cultura» engagieren möchte. Sie zögert nicht lange. Dass hier ein kultureller Ort der Begegnung für Einheimische, Zweitheimische und Gäste besteht, hat die Lehrerin schon lange positiv beeindruckt. So organisiert sie seither zwei bis drei Anlässe jährlich und hilft aus, wo gerade Unterstützung benötigt wird. Eine alte Tradition, die ihr besonders am Herzen liegt und die sie auf Anregung einer Grotta-Kollegin zu dritt wieder ins Leben gerufen haben, ist der Neujahrsball «Bal da Büman a la veglia» – ein Fest mit Musik und Tanz, das vor allem Einheimische anspricht.
A Sent be Rumantsch: Sprachkurs mal anders
Von der Initiative «A Sent be Rumantsch» war Christina sofort begeistert. Alle zwei Jahre im November können Interessierte während einer Woche in einer Gastfamilie in Sent wohnen und tagsüber an einem abwechslungsreichen Programm aus Unterricht und Exkursionen teilnehmen. Der Clou an der Sache: sowohl Gäste als auch Gastgeber legen einen Eid ab, dass sie während der ganzen Woche ausschliesslich auf Rätoromanisch kommunizieren und nur romanische Medien konsumieren. Kein Wunder, gibt es am Ende noch das eine oder andere, das klargestellt sein will: Zum Beispiel, ob man es tatsächlich richtig verstanden hat, dass Donald Trump als Präsident der USA gewählt wurde?! «Die Woche als Gastfamilie war für uns sehr bereichernd. Mit unserem Gast hat sich eine Freundschaft entwickelt und wir können uns gut vorstellen, wieder einmal jemanden bei uns zu beherbergen.»
Girun: Geheimsprache mit den Bartgeiern
Doch wie lernt man eine Minderheitensprache wie das Rätoromanische? Bereits als Kind ist Christina fasziniert von der Idee, Romanisch sprechen zu können und damit eine Art Geheimsprache zu haben. Diesem Ziel kommt sie als junge Studentin der Naturwissenschaften an der Universität Zürich einen ersten Schritt näher: Sie übernimmt während einem Wiederansiedelungsprojekt von Bartgeiern für einige Zeit einen Beobachtungsposten im Schweizerischen Nationalpark. Als Zeitvertreib in der Wildnis dienen ihr die Kassetten und Übungsblätter des Vallader-Grundlagenkurses der Lia Rumantscha. Schliesslich möchte sie sich mit den einheimischen Parkwächtern in ihrer Sprache unterhalten können.
Viadi: Romanisch in Montréal
Während ihrer Zeit in Zürich lernt Christina auch den Sentner Klimatologen Jan kennen und lieben. Das Romanische bleibt zu Beginn jedoch ihre «Feriensprache». Erst als sie entscheiden, für einige Jahre nach Montréal zu gehen, ändert sich das. Denn für Christina ist klar: «Wenn wir in Kanada nicht romanisch miteinander reden, verlerne ich alles.» Gesagt, getan. Und so kommt es, dass die junge Naturwissenschaftlerin in Montréal und nicht etwa im Engadin ihr Romanisch perfektioniert. Als in Kanada ein Sohn und später eine Tochter geboren werden, etabliert sich Vallader endgültig als Familiensprache.
Dürabilità: Zurück zur Natur
Wieder in der Schweiz lässt sich Familie Sedláček in Greifensee nieder. Doch der Wunsch, früher ins Engadin zu ziehen, wird immer grösser. Nach reiflicher Überlegung geht es also nach Sent, in das Bergdorf hoch über dem Inn, das für seine schön erhaltene Dorfstruktur mit Engadiner Häusern sowie italienisch anmutenden Palazzi bekannt ist. Für Christina heute die richtige Entscheidung: «Es gibt kaum etwas Schöneres, als wenn man direkt vor der Haustür in die Natur eintauchen kann. Wir versuchen, unser Leben möglichst nachhaltig und naturnah zu gestalten – hierfür ist das Unterengadin einfach perfekt.» Eine besondere Verbundenheit spürt die Biologin nach wie vor zu «ihren» Bartgeiern und ist deshalb immer wieder in Zuort anzutreffen. Hier stehen die Chancen gut, mit Glück und einem geschulten Auge einen Blick auf die majestätischen Vögel zu erhaschen.
Cumbinella: Wie sich alles fügt
Gefragt nach ihrem romanischen Lieblingswort, antwortet Christina sofort: «La cumbinella – Puzzle auf Vallader». Ihr gefalle der Klang des Wortes und auch der Ursprung, kommt es doch von cumbinar: etwas zusammenfügen, kombinieren. Und wie die «cumbinella» am Küchentich der Familie Sedláček am Ende ein harmonisches Bild ergibt, so fügt sich auch Christinas Lebensweg zusammen. Sent im Unterengadin ist mit seiner Sprache, seinen Menschen, seiner Kultur und Natur zu Christinas Zuhause geworden.
Text: Martina Stadler
Bilder: Andrea Badrutt
Video: OnAir Productions
Chi chi sa rumantsch
*Vallader: Das Vallader ist eines der fünf offiziellen rätoromanischen Idiome, welches auch geschrieben wird. Es wird im Unterengadin sowie in abgewandelter Form («Jauer») im Val Müstair gesprochen. Für rund 5000 Menschen ist Vallader auch heute noch die bestbeherrschte Sprache bzw. gesprochene Sprache in Familie, Schule oder Beruf. Weitere Informationen zur romanischen Sprache im Kanton Graubünden sowie Sprachkurse erhalten Sie bei der Lia Rumantscha.
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