Aus einem Traum wird ein Neuanfang.
Reto Rauch
Reto ist im Unterengadin, im urchigen Dörfchen Sent, aufgewachsen und lebt auch heute noch mit seiner Frau und den zwei Kindern dort. Seit der Übernahme verbringt Reto jedoch viel Zeit auf dem Hof. «Das hat sich so eingependelt und ist für mich vor allem am Morgen effizienter, wenn ich am Vorabend in San Jon bleibe», berichtet Reto. Seine Familie besucht ihn regelmässig – vor allem an den Wochenenden sind seine Tochter und sein Sohn bei ihm und unterstützen ihn tatkräftig. Livio hilft ihm fleissig bei der Fütterung der Pferde – Flurina kümmert sich am liebsten um die Pflege der Pferde und hilft den Gästen beim Satteln und Putzen.
Reto nimmt uns in seinen Alltag und hinter die Kulissen des Reitstalls und Saloon San Jon mit.
Morgendliches Ritual
Der Tag startet für Reto mit einer festen Routine: Jeden Morgen um 05.30 Uhr geht er als Erster in den Stall und füttert die Pferde. «Diese Zeit schätze ich sehr – während der Fütterung geniesse ich die Ruhe sowie die Stimmung, wenn der Tag langsam anbricht und die Sonnenstrahlen über die Berggipfel fallen. Und falls es einem der Pferde nicht gut geht, merke ich das eher, als wenn das Tier den Tag hindurch in der Herde ist.» Heute hat Reto Unterstützung von seinem Sohn. Das verteilen des Heus dauert ungefähr 45 Minuten. Die Pferde fressen am Tag ca. 600 Kilo – nebst dem frischen Gras während des täglichen Weidegangs.
Für die Pferdefütterung stehe ich jeden Tag um 05.00 Uhr auf. Ich geniesse die Ruhe am Morgen und stelle sicher, dass die Pferde wohlauf sind.
Reto Rauch
Lokale Speisekarte
Nach der Versorgung der Pferde kommen die Gäste an die Reihe. Das Frühstück wird täglich frisch zubereitet, dabei legt Reto grossen Wert darauf, dass die Zutaten regional sind. «Regionalität in der Küche ist mir sehr wichtig – wenn wir die Ware nicht aus dem Engadin beziehen können, weichen wir auf Schweizer Produkte aus.» Auch bei den Getränken zieht Reto dies konsequent durch. Für ein paar Gäste war dies eine Umgewöhnung und Umstellung auf Produkte, die nicht so geläufig sind. Aber im Grossen und Ganzen wurde das neue Konzept gut aufgenommen und die Gäste probieren neugierig unbekannte Gerichte oder Drinks, die Reto und sein Team zubereiten.
Das Brot schmeckt am besten knusprig und warm aus dem Ofen. Daher produzieren wir unser eigenes Brot, welches täglich frisch aufgebacken wird.
Reto Rauch
Nicht nur ein Pferd – sondern gleich 45
Reto geht trotz dieser beachtlichen Auswahl nur noch selten auf Ausritte. Dafür sind seine Frau Yvonne und Tochter Flurina viel mit den Pferden unterwegs. Er ist seit der Übernahme vom Reitstall und Saloon viel mit Büroarbeit beschäftigt gewesen. Es gab einige Neuerungen: So führte Reto Arbeitsprozesse ein, welche die Planung des Arbeitstages mit 45 Pferden und der Einteilung der Mitarbeitenden erleichtern. «Sobald sich die Arbeitsabläufe eingependelt haben, werde ich sicherlich wieder mehr Zeit für die Unterstützung im Stall bei den Pferden und für Ausritten haben.»
Gemeinsame Zeit mit der Familie
Für Reto ist es extrem wichtig, dass er sich abgrenzen kann vom Betrieb und sein Privatleben mit seiner Familie geniessen kann. «Ich möchte dabei sein, wenn meine Tochter beispielsweise ein Skirennen fährt oder mein Sohn Livio mit mir eine Bergtour unternehmen möchte. Diese Zeit nehme ich mir und geniesse diese Auszeiten mit der Familie». Das bedeutet für den Betrieb auf San Jon eine gewisse Umstellung sowie eine gute Zusammenarbeit mit einem eingespielten Team. «Ich verbringe zwar mehr Zeit als gedacht auf San Jon, allerdings bin ich nicht 24/7 verfügbar. Die Aufgaben werden innerhalb des Teams aufgeteilt – wir unterstützen uns gegenseitig und dies funktioniert sehr gut».
Ein Traum wird Realität
Im Rahmen seiner landwirtschaftlichen Ausbildung suchte Reto dazumal einen Betrieb, bei welchem er den praktischen Teil anwenden und die Theorie einfliessen lassen konnte. So kam er nach San Jon und hat die Entwicklung des Reitstalls und Saloons miterlebt. «Der Betrieb ist mir über die Jahre sehr ans Herz gewachsen». Als sich dann die Möglichkeit ergab, San Jon zu übernehmen, war Reto anfangs überrascht – er hat sich das immer gewünscht aber nicht fest damit gerechnet, dass er den Betrieb tatsächlich einmal weiterführen würde. Bekanntlich fallen einem gute Gelegenheiten dann zu, wenn man sie am wenigsten erwartet. So auch bei Reto. Innerhalb eines halben Jahres übernahm er den Reitstall samt Saloon in einem fliessenden Übergang. Mit den vorherigen Besitzern, Men und Brigitte, hat Reto über 27 Jahre zusammengearbeitet und die drei verbindet eine langjährige sowie gute Freundschaft.
Meine Tochter wollte schon immer ein eigenes Pferd. Als ich San Jon übernommen habe und ihr sagte, dass sie nun 45 Pferde hat, ging nicht nur mein eigener Traum in Erfüllung.
Reto Rauch
Vielseitiges Reitprogramm
Bei den Mitarbeitenden sind die mehrtägigen Ausritte – wie die Dreiländerritte und Zweitagesritte ins Val Müstair – sehr beliebt. Auch für Anfänger sind diese Trekkings geeignet. Allerdings wird eine gewisse Kondition vorausgesetzt sowie Freude am Reiten und an den Pferden. «Ansonsten werden es lange Tage, wenn man nach 2 Stunden merkt, dass Reiten einem nicht zusagt» meint Reto lachend. Obwohl er aktuell nicht sehr viel freie Zeit hat für Ausritte, macht Reto heute eine Ausnahme. Zusammen mit seiner Tochter Flurina geht es nach Bain Crotsch zur Agata, dem grössten Pferd des Engadins.
Weiterführung einer Tradition
Was Reto ebenfalls weiterführen möchte, ist das bewirtschaften des Kartoffelfeldes mit dem anschliessenden Fest. Freiwillige Helfer*innen treffen sich in San Jon, ernten gemeinsam die Kartoffeln und geniessen feine Gerichte, deren Hauptzutat aus dem Boden von wenigen Metern nebenan stammt. Dabei wird auf jegliche moderne Arbeitsgeräte verzichtet, auch schon bei der Bepflanzung. Das Feld wird mit 2 PS umgepflügt, sodass die Kartoffeln nur so aus dem Boden in alle Himmelsrichtungen spicken und eingesammelt werden können. Die nächste Kartoffelernte mit anschliessendem Fest ist auf den Herbst 2025 vorgesehen.
Der neuen Zukunft entgegen
Mit der Übernahme von San Jon hat Reto einen grossen Schritt in einen neuen Lebensabschnitt unternommen und bereut seinen Entscheid nicht. Nach der Aufgabe seines bis anhin geführten Betriebes – die Bierbrauerei «Bieraria Tschlin» sowie weiteren, kleinen Projekten – hat er mit 48 Jahren einen Neuanfang gewagt und sich somit einen lang gehegten Traum erfüllt.
Bilder und Text: Michelle Zbinden
Eindrücke vom Alltag in San Jon
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