Nevin Galmarini
Snowboarder und Mountainbiker
In der Morgendämmerung setze ich einen Fuss vor den anderen. Tausend Gedanken und
Gefühle blitzen mir durch den Kopf. Im Aufstieg zum Piz Clünas lasse ich meinem Sinnieren freien Lauf. Die Rückenoperation, jeden Tag Schmerzen – das will ich nie mehr erleben. Werde ich im nächsten Winter die Erwartungen an meine Resultate erfüllen können? Ich spüre das Gewicht auf meinen Schultern. Die Alpenluft strömt nur noch verdünnt in meine Lungen. Ich erkenne die Konturen der umliegenden Gipfel am Horizont. Die endlosen Therapiestunden im Kraftraum haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Ich werde mich in den Arsch klemmen müssen. Der Aufstieg dauert ja ewig. Man ist das anstrengend! Ich werde es allen nochmals zeigen! Werde ich? Ein erster Sonnenstrahl scheint mir ins Gesicht.
Das weiche Licht der Morgensonne steigt langsam von den Bergspitzen in die noch finsteren Täler herunter. Ich lasse mich auf dem Gipfelstein nieder und schliesse die Augen.
Der perfekte Finallauf an den Olympischen Spielen! War das vielleicht einmalig? Kann ich das nochmals wiederholen? Mit jedem Atemzug rückt die Anstrengung des Aufstiegs weiter in die Ferne. Die Gedankenblitze und Zweifel verziehen sich wie ein Platzregen im Hochsommer. Ich spüre Ruhe in mir.
Es ist Zeit aufzubrechen, mein Blick richtet sich nach vorne. Die Schwerkraft zieht mich
Talwärts. Mit jedem Meter steigt mein Fokus. Mit jeder Sekunde fühle ich mich befreiter.
Alles Belastende und die negativen Erinnerungen an meine Verletzungen sind oben auf
dem Gipfel geblieben.
Mein eingeschlagenes Tempo, die Anforderungen des Trails und meine Skills treffen sich. Für mich ist genau hier der Flow. Mein Körper produziert Endorphin in rauen Mengen und pumpt es in jede einzelne Zelle. Um mich herum verschwimmt alles. Ich bin absolut im Hier und Jetzt.
Damit die Glücksgefühle nicht zu schnell vergehen, mache ich auf halber Strecke eine Pause und halte einen Moment inne. «Pan e chaschöl», Brot und Käse. Ich höre den Grillen und den Vögeln zu. Die Murmeltiere pfeifen in der Ferne. Natur in ihrer reinsten Form.
Links, Rechts, Absatz, Gegensteigung, Wurzelteppich. Das ist ja fast wie Snowboarden!
Woohoo! Geil! Braaap!
Was für ein Tag! Am Ufer des Lai Nair verspüre ich eine tiefe Zufriedenheit. Ich bin zwar hundemüde, aber meine Batterien sind voll. Die Zweifel die mich im Aufstieg zum Gipfel begleitet haben sind weit weg. Die Zweikämpfe auf dem Schnee können losgehen! Es breitet sich eine wohltuende Ruhe in mir aus. Ich bin glücklich.
Text: Fridolin Engler / Bilder: Oceana Galmarini